Arne Rautenberg

Arne Rautenberg: Aufbrüche ins Frische, Bunte (2007)

– Anmerkungen zu den Bildern von Kathrin Pieczonka –

Man kann, um ein Zitat von Vladimir Nabokov abzuwandeln, einen Künstler als dreierlei betrachten: als Geschichtenerzähler, als Lehrer oder als Magier. Ein bedeutender Künstler vereinigt diese drei Facetten in sich, aber das Übergewicht sollte hierbei der Magier haben, der Zauberer, der einen Künstler erst zu einem bedeutenden macht. Es ist genau diese magische Erweckung, die in den Arbeiten von Katrin Pieczonka steckt.
Die gewählten Motive sind mit ihrer Biografie verkoppelt. Sie zeigen aufgesuchte Orte, an denen eine spezielle Schwingung zu spüren war; Bildtitel wie kirkjufell, labifernina, legienstraße, termoli entfalten neben ihres Wohlklangs auch eine nebulöse Ahnung, die Aura dieser Orte betreffend. Via Fotografie selektiert Katrin Pieczonka diese Orte, um sie mit Mitteln der Malerei noch einmal neu und anders zu erobern; dabei entgleitet ihnen zunehmend die Verknüpfung mit der Wirklichkeit. Dass die Betrachter diese „übervisionierten“ Orte dennoch in ihrer Abbildhaftigkeit erfassen können, darin liegt ihr Zauber verborgen. Wie sehen die Orte aus? Visionär, leicht unterkühlt und verlassen. Es finden sich keine Personen darin, keine „Rückenfiguren“, in die man sich hineindenken kann; die Bilder lassen die Betrachter, so scheint es, außen vor – und dennoch ermöglichen sie ihnen einen tiefen Einblick, sind weit geöffneten Guckkästen; das kulturelle Zeichensystem der Häuser, Lampen, Straßen, Zäune ist wohlbekannt – Spuren des Einrichtens in einer übermächtigen Umwelt. Diese Zeichen lassen sich als Codes lesen, dass die in den Bildern geschaffenen Plätze auch für sie mitgemeint sind – sodass die Betrachter doch hinein ins erstarrte Geschehen gezogen und mit der magischen Aufgeladenheit der Bildwelt konfrontiert werden: Sie finden sich plötzlich inmitten eines frischen Farbexplosionsfeldes, zwischen fahlen Schockfarben, den Blick aufsaugenden Tiefen und blassen Sphärenfeldern. Ein Abglanz von Ferne, ja von Distanz überhaupt tut sich auf. Dazu kommen die im Bild wechselnden Perspektiven, Fluchtpunkte: Vorder-, Mittel- und Hintergrund verschmelzen.
Der Atem beginnt in diesem Kraftfeld zu stocken. Es ist, als würden die Bilder nur auf uns, die Betrachter, warten, um ihr eingefrorenes Dasein aufzugeben. In ihnen steckt eine gewisse Gelassenheit, die auf mehreren Ebenen funktioniert und die ihre Kraft nicht zuletzt aus ihrem langwierigen Produktionsprozess, die vielen Veränderungen, Ergänzungen, Korrekturen bezieht. Hier wurde nicht einfach drauflosgeschludert, hier wurde lange geschaut, überlegt, hier wurde mit dem Bild gelebt und ein Teil dieser intensiven Beschäftigung floss mit den Acrylfarben auf die Leinwand. So wie die Bilder auf den Betrachter warten, scheint in ihnen ein animistisches Heilsversprechen zu stecken, eine Aufforderung zum Aufbruch, zum Weiterkommen. An diesem Punkt lässt sich auch die Vorliebe Katrin Pieczonkas für die 60er- und 70er-Jahre-Ästhetik erklären, denn keine Epoche der jüngeren Geschichte symbolisiert mehr (gesellschaftliche) Aufbruchsstimmung als diese. Katrin Pieczonka ist 1972 geboren – sie kennt diesen Aufbruch noch aus persönlicher Anschauung (und sei es aus dem Familienalbum), schließlich hat sich im Zeitrahmen dieses Aufbruchs ihre Persönlichkeit konstituiert.
Wie brüchig visionäre Konstrukte sein können, zeigen die Arbeiten von Katrin Pieczonka ebenfalls, denn ihre Malerei verweist immer wieder auf sich selbst: Farbverläufe, sichtbar gelassene Übermalungen, Transparenzen, schroffe Brüche und ein manchmal grober Pinselduktus geben den Betrachtern die Rückfahrkarte: Dies ist bloß Malerei! – So enttarnt sich, das ist ein bekanntes Verfahren, der künstliche Illusionsraum über seine malerischen Spuren selbst und wirft die Betrachter auf sich und ihre Welt zurück. Kathrin Pieczonkas Bilder lassen einen an jenen Wunderwelten teilhaben, in denen gegenstandsorientierte und abstrakte Darstellungen gemeinsam das Bild tragen; einen Augenblick lang glaubt man, als würden zunehmend die Farben selbst das Ruder über die Vorherrschaft des Bildes übernehmen – dann wieder erkennt man, wie sehr die Farben doch wieder an den Gegenständen innerhalb der Bildwelt ausgerichtet sind. Ein hin und her beginnt sich aus diesem Wechselspiel zu entspinnen, eine Art Kampf zwischen unserem Zeichensystem und der malerischen Autonomie, zwischen Impusivität und Kalkül um die Vorherrschaft im Bild. So wie die Malerei in Kathrin Pieczonkas Leben steckt, steckt ihr Leben auch in ihrer Malerei. Es gilt wie so oft, ein Gleichgewicht zu finden und die Leichtigkeit zu halten.
Man möchte den Bildern wünschen, dass viele Betrachteraugen in sie eintauchen. Denn sie bieten eine Gelegenheit zum mentalen Krafttanken, in dem sie Möglichkeiten aufspannen, die einem die (stets zu eng empfundene) Realität nicht bieten kann.