Peter Kruska

Peter Kruska: The Time Is Now (2006)

„The Time Is Now“ lautet der Titel, der der englischen Elektro- und Trip Hop Band „Moloko“ im Jahr 2000 zum Durchbruch verhalf. „Moloko“ lautet auch der Name einer Milchbar in dem Roman „A Clockwork Orange“ sowie einer Bar in Frankfurt/Main. Einen Ausschnitt dieser Frankfurter Bar zeigt Katrin Pieczonkas Gemälde „Moloko“ von 2006. Zu erkennen ist eine unklare Innenraumsituation. Linien und Flächen im Vordergrund deuten eine perspektivische Bildtiefe an, die durch die teilweise nebeneinander gesetzten und sich überlagernden Flächen wieder zurückgenommen wird. Dem Blick des Betrachters wird ein lenkendes Angebot gemacht, das jedoch keine Erfüllung findet. Angedeutete Bildräume loesen sich in der Bildfläche wieder auf.

Was verbindet Trip Hop und eine Frankfurter Bar mit den Arbeiten von Katrin Pieczonka?

Als Vorlage für ihre grossformatigen Gemälde dienen Katrin Pieczonka Fotografien; Fotos und Schnappschüsse von Situationen, bei denen sie selbst dabei war. Es sind Fotografien, die sie selbst gemacht hat oder in den Fotoalben ihrer Eltern und Freunde findet. Bei der Auswahl interessiert sie das eher Nebensächliche und Beiläufige. Die Fotos dienen ihr als Erinnerungshilfe, sowohl für den Bildaufbau als auch für ihre durch das Malen weitergeführte Autobiografie.

Die Autobiografie zeichnet sich durch ihr Changieren zwischen den Polen der Wirklichkeit und der Fiktion aus, wobei sie zunehmend mit dem fiktionalen Aspekt in Zusammenhang zu bringen ist. Realität und Fiktion sind auch die Komponenten auf Basis derer man das (analoge) fotografische Bild vom gemalten unterscheiden kann. Haftet dem analogen Bild immer ein Rest an Authentizität des abgebildeten Referenten an, so ist das gemalte Bild durch seinen subjektiven Entstehungsprozess zu charakterisieren. Beim gemalten Bild obliegt es dem Betrachter, die dargestellte Situation für wahr zu nehmen. Es ist die Differenz von „seeing-in paintings“ und „seeing-through photographs“ , durch die unsere visülle Wahrnehmung bestimmt wird.

Mit ihren Gemälden gibt Katrin Pieczonka uns Einblicke in ihre Welt und ihr Leben. Sie zeigt uns Bilder ihres alltäglichen Umfeldes, nimmt uns mit auf ihre Reisen – Orte an denen sie gewesen ist. Es sind Orte und Bilder, die jeder von uns kennt. Kinderspielplätze, Tankstellen, Häfen, oeffentliche Plätze, repräsentative Bauten, Landschaften, Büroräume… Der malerische Prozess bleibt hierbei immer erkennbar. Sei es durch verlaufende Farbspuren in den Bildern oder erruptiv hineingeworfene Farbflächen. Das Figurative verzahnt sich mit dem Abstrakten, die räumliche Perspektive mit Flächen, an denen der Blick abprallt. Die von Katrin Pieczonka erschaffenen Bilderwelten lassen uns über unsere Wahrnehmung nachdenken, darüber, wie wir uns ein Bild über uns und unsere Welt machen, wie wir unsere eigene Autobiografie sehen und schreiben.

Die Welt, die uns Katrin Pieczonka in ihren Bildern vorstellt, ist menschenleer. Nie ist eine Person zu sehen. Diese (Menschen)Leere macht sie offen für eigene Projektionen. Es sind keine Geschichten, die durch Figuren erzählt werden koennten. Der Fokus liegt auf dem Umfeld, dem architektonischen Raum, der uns bestimmt und den wir kennen. Die Alltäglichkeit, Normalität und Allgemeinheit der Motive lässt Platz für eigene Projektionen; für die eigene Autobiografie.

Zurück zum Trip Hop: Entstanden Mitte der 1990er Jahre, zeichnet er sich durch seine Verbindung von Hip Hop-Elementen mit einer melancholischen Grundstimmung aus. Gegenläufige Elemente liessen über die musikalische Wahrnehmung nachdenken und sind als zwei gegenläufige Komponenten zu einer (dis)harmonischen Einheiten verbunden worden.

Mit der Verschränkung konträrer Abbildungsmoeglichkeiten in ihren Gemälden, sei es Fotografie vs. Malerei, abstrakt vs. figurativ oder illusionistische Tiefenperspektive vs. zweidimensionale Bildfläche, erschafft Katrin Pieczonka harmonische Bildräume, die uns Vertrautheit geben und unsere Blicke gleichermassen stoeren. Der Betrachter wird auf sich und seinen eigenen Blick zurückgeworfen. Die realitätsnahe fotografische Vorlage wird in Katrin Pieczonkas Umsetzung im Gemälde gebrochen. Es findet ein Verweis auf den konstruktiven Aspekt jedes gemalten Bildes statt. Die Autobiografie des Betrachters verschränkt sich mit der Autobiografie von Katrin Pieczonka/der Malerin. Das mit Hilfe postmoderner und poststrukturalistischer Fotografiediskurse totgesagte Subjekt der Philosophie wird mit Hilfe der Malerei wieder zum Leben erweckt.

Die Gemälde von Katrin Pieczonka lassen einen über die eingangs erwähnten und von Moloko gesungen Worte „The Time Is Now“ nachdenken; darüber, wie die eigene Autobiografie, die man sich selbst erzählt, entstanden ist; darüber wodurch das Leben im Hier und Jetzt bestimmt wird.

Genauso wie Róisín Murphy, ehemalige Sängerin von Moloko, ihre erste Solo-CD (2005) mit dem Song „we’re too busy“ schliesst, laden Katrin Pieczonkas Bilderwelten zur ruhigen Reflektion über visülle Wahrnehmung und Erinnerung ein. Der melancholische Unterton ihrer Gemälde kann mit eigenen Projektionen und der eigenen Geschichte aufgeladen werden. Hierbei verliert sich der Blick nicht in illusionistischen Darstellungen, sondern die Brüche in den Bildflächen und der explizite erweis auf das Medium der Malerei und der Farbe als bildschaffendes Medium laden ein, den eigenen Blick auf das Umfeld zu überdenken und liefern ein irritierendes Moment in der heutigen medial geprägten visüllen Kultur. Die Frage nach der Relation von Bildern und ihren Betrachtern rückt ins Zentrum.